John Martyn, 26 Jahre alt, verheiratet mit Beverley M., ein Kind...

Manfred Gillig
Sounds Magazin

... wohnhaft in Hastings, Sussex, England ... geboren in Glasgow, Schottland, spricht aber Cockney-Dialekt ... leichtes Schielen ... ausgelassenes, temperamentvolles Wesen ... natürlich und unkompliziert Musiker, Folkgitarrist (Folk?) ... Erneuerer ... letzte Platte : SUNDAY'S CHILD ... Sonntagskind ... Sonntagskind? ... das erste und einzige Deutschlandkonzert war ein Schlag ins Wasser ... trotzdem Sonntagskind? ...

John Martyn ist schon lange im Musikgeschäft, genauer gesagt seit 1967. Und zumindest in England ist er seit geraumer Zeit eine anerkannte Größe. Anläßlich seiner diesjährigen Tournee durch Großbritannien schrieb der Melody Maker: "Martyn stand schon immer abseits der Hauptströmung englischer Liedermacher und arbeitete auf einem höchst individuellen Gebiet mit einem sonst nirgends erreichten Grad an Sensibilität, die den meisten anderen Musikern weitgehend fehlt."

Mit begeisterten Kritiken bei dem Erscheinen seiner bisher letzten LP, SUNDAY'S CHILD, dürfte John in England auf der Höhe seiner bisherigen Laufbahn sein, und das ohne besondere Anstrengungen, ohne große Promotion- und Public-Relation-Arbeit. Eigentlich macht er seit 1967 immer das gleiche: nämlich sein ureigenstes Ding.

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In John Martyn's Fall scheint das Wort vom Guten, das sich schließlich durchsetzt, zu stimmen. Allerdings bisher nur in England. Bei uns ist er immer noch ein Geheimtip für Liebhaber. Und daran wird wohl auch sein erstes und einziges Deutschlandkonzert nichts ändern, das am 30. Juni dieses Jahres ausgerechnet in Freiburg über die Bühne ging.

Sicher war es etwas gewagt von den Veranstaltern, John als "Englands Folkgitarrist Nr. l" anzukündigen, denn ein solches Umhängeschild erweckt Erwartungen bestimmter Art, die John Martyn mit 100% Sicherheit enttäuschen muß. Denn seine Musik entzieht sich solchen Bestimmungen, weil sie ein ineinandergreifendes Geflecht verschiedener Wurzeln ist, das seine Sprößlinge in alle Richtungen wachsen lassen kann. Eine Musik ohne stilistische Begrenzung. Da gibt es Rock- und Blueselemente und vor allen Dingen auch viele jazzige Passagen, lyrisch-akustische Lieder wechseln sich ab mit psychedelischen Gitarrenorgien. Auf seinen Platten hat er außer der verstärkten und verfremdeten Gitarre auch schon recht früh Bläser und Synthesizer in seine Musik integriert. Aber alle diese Elemente haben sich in seinen Händen tatsächlich zu einem harmonischen Ganzen zusammengefügt.

Trotz dieser Vielseitigkeit läßt sich nicht leugnen, daß John eine gesunde Basis in der englischen und gälischen Folklore hat. Von daher ist die Bezeichnung Folkgitarrist sicher gerechtfertigt.

Kein Ausverkauf

Wenn man einen Musiker fragt, was er sich bei seiner Musik eigentlich so denkt, bekommt man meist zu hören: "Ich will meine Gefühle, mein Innenleben, mich selbst darstellen." Bei manchen klappt das recht gut, bei vielen steht das Handwerkliche, die Spieltechnik, das Intellektuelle und vor allem die Show, die Verpackung, das Sich-selbst-so-gut-wie-möglich-Verkaufen zwischen Absicht und Verwirklichung.

Martyn hingegen verkauft sich nicht. Lieber spielt er am Publikum vorbei, auch wenn es ärgerlich und aggressiv wird, weil er nicht die an ihn herangetragenen Erwartungen erfüllt. Martyn macht nur dann Show, geht nur insofern auf Erwartungen ein, als sie auch seinen Intentionen entsprechen.

Und noch ein Moment kommt da hinzu: Martyn hat keine musikalische Ausbildung und keinen theoretischen Überbau, die als technische Filter zwischen Feeling und musikalischer Verwirklichung geschaltet sind. Er ist Autodidakt. 1967 - John war 19 Jahre alt begann er, Gitarre zu spielen, "just for fun" sozusagen. Drei Monate später, im Februar 1968, erschien seine erste LP!1

LONDON CONVERSATION hält sich noch streng in den damaligen Grenzen der Folkmusik, die hauptsächlich von den Möglichkeiten der akustischen Gitarre bestimmt waren. Auf dieser und auf den unmittelbar darauffolgenden Platten ist Johns eigener Stil noch nicht entwickelt, sein Stil bewegt sich in den von anderen Folkgitarristen wie z.B. Bert Jansch gesetzten Variationsmöglichkeiten.

Aber seine Entwicklung schritt schnell voran. Denn schon auf seiner zweiten LP, THE TUMBLER, die im Dezember 1968 erschien, verließ er das Konzept eines Folkalbums, indem er mit dem Saxophonisten2 Harold McNair zusammenarbeitete. Harold McNair war es denn auch, über den John intensiver mit dem Jazz in Berührung kam, und dieser Einfluß wurde in seiner Musik immer spürbarer. Innovation nennt man das, was John auf THE TUMBLER machte. Einen neuen Anstoß geben, Vorhandenes, Traditionelles durch Einführen neuer Elemente weiterentwickeln.

Und indem es ihm primär nicht nur um die Verfeinerung der eigenen Spieltechnik ging, sondern um das Erkunden neuer Bereiche, neuer Möglichkeiten, hat er für die Entwicklung der sogenannten Folkmusik in Richtung einer natürlichen Synthese der verschiedensten Einflüsse sicher mehr getan als die meisten anderen vergleichbaren Musiker.

John ist sich dieser seiner Funktion wohl bewußt, und er weiß auch, daß er von der Perfektion her sicher nicht der Beste ist. "Eigentlich müßte ich jeden Tag üben, aber ich spiele nur, wenn ich auch das emotionale Bedürfnis dazu habe. Ich finde es besser, ein schlechter Innovator zu sein, als ein guter Kopierer. Ich habe keine Lust, eine einmal gefundene Formel immer wieder zu verwenden. Anstöße für andere, Weiterentwicklung, all das ist viel wichtiger."

Jazz und weiter

1969 lernte John seine Frau Beverley kennen. Durch ihren Einfluß ließ er das konventionelle Folkkonzept hinter sich und arbeitete noch stärker mit Jazzkomponenten. Das erste gemeinsame Werk der beiden, STORMBRINGER!, das im Februar 1970 erschien, spiegelt diesen Bruch mit der Tradition wieder. Die Platte wurde sozusagen während der Flitterwochen in Amerika aufgenommen, mit New Yorker Session-Musikern wie John Simon, Harvey Brooks und Paul Harris und u.a. auch mit Levon Helm von der Band. Auf STORMBRINGER! ist vor allem Paul Harris' Klavier bemerkenswert, das mit seinen zurückhaltenden Jazzphrasierungen eine gewisse Spannung in die ansonsten sehr friedlichen Lieder bringt. Und dann ist da natürlich Beverleys Gesang, energisch, relaxed und sehr eindringlich, der in seiner klaren Akzentuiertheit ein ideales Gegengewicht zu Johns nuscheliger, weicher und manchmal etwas verwaschener Stimme bildet.

Mit der im November 1970 erschienenen Platte ROAD TO RUIN gelang den beiden dann eine der wenigen neuen und beeindruckenden "Folk-Rock-Jazzplatten" überhaupt. Sanfte Folksongs, lateinamerikanische und afrikanische Rhythmik und lange Jazzimprovisationen verbinden sich mit einer zwingenden Leichtigkeit zu einer Platte, die sich nun wirklich jeder Kategorisierung widersetzt. Auf ihr wirkt eine erlesene Auswahl englischer Musiker mit, so z.B. Dudu Pukwana, Ray Warleigh und Danny Thompson.

Danny Thompson, der vor allem als Bassist von Pentangle bekannt geworden ist, arbeitet seither bei allen Platten von John Martyn mit, und John hält große Dinge von dieser Zusammenarbeit. Mit ihm und mit dem Schlagzeuger John Stevens, der aus der britischen Jazz-Szene stammt, tritt John normalerweise in Konzerten auf.

Im November 1971 erschien dann BLESS THE WEATHER, Johns fünfte LP, auf der besonders Danny Thompsons Baß hervorsticht. Diese Platte bedeutet allerdings insofern eine Stagnation, als die Richtung, die mit ROAD TO RUIN eingeschlagen wurde, nicht weiterverfolgt wird und das ganze wieder eindeutig folkig klingt. Und noch ein bitterer Verzicht: Beverley zog sich damals von der aktiven Mitarbeit zurück, um ihren Haushalts- und Mutterpflichten nachzugehen, und taucht seither nur noch als Thema in Johns (Liebes-)Liedern auf.

Auch SOLID AIR (Februar 1973) bringt nicht allzuviel Neues, außer daß John hier zum ersten Mal mit einem Synthesizer experimentiert (und das auch noch ausgerechnet bei einem Blues).3 Auf SOLID AIR hat er sich als Begleitgruppe Fairport Convention angeheuert. Dave Mattacks, Dave Pegg, Richard Thompson und Simon Nicol spielen neben Danny Thompson und Rabbit von Free und Ayers' Soporifics mit.

Eibhli Ghail Chiuin...

In diese Zeit fiel auch Johns erste große Amerikatournee. Er spielte hauptsächlich als Vorprogramm von Traffic. Daß das eine durchaus geschickte Verbindung war, zeigte dann auch Johns nächstes Werk, INSIDE OUT vom Oktober 1973, das einen neuen Höhepunkt seiner musikalischen Entwicklung markiert. Traffic fungiert hier zur Abwechslung mal als Begleitgruppe. Auf dieser Platte hat John endgültig zu seinem eigenen Stil, zu seiner eigenen Musik, zurückgefunden. Am sinnfälligsten wird das vielleicht bei der keltischen Melodie mit dem Zungenbrecher-Titel "Eibhli Ghail Chiuin ni Chearbhaill" demonstriert, die John mit seiner elektronisch modulierten akustischen Gitarre spielt wie ein romantischer Jimi Hendrix und sie dadurch zu einer majestätischen Klanghymne macht, ohne das Melodiöse, das Traditionelle, das Folkloristische zu zerstören.

Und da wären wir auch gleich bei einem weiteren unverkennbaren Charakteristikum von John Martyns Musik: John benutzt immer noch die gleiche akustische Gitarre (eine Martin D 28) wie eh und je, hat aber das Spektrum der Klangmöglichkeiten im Laufe der Zeit konsequent erweitert, indem er die verschiedensten mit dem Fuß zu bedienenden Gerätschaften anschloß. So ist er jetzt in der Lage, mit dieser Gitarre einen Sound zu fabrizieren, in dem sich rhythmische und harmonische Strukturen und Melodielinien auch live mühelos miteinander verbinden lassen. Dieser Sound entzieht sich der Kurzbeschreibung, läßt sich auch kaum im Studio reproduzieren, man muß es selbst gehört haben.

In Freiburg war das Publikum, in der Erwartung, einen Folkgitarristen zu hören, auf solche Klänge nicht vorbereitet. Einige Zuschauer zeigten das, indem sie den Saal verließen.

Widersprüche

Die Möglichkeiten, die akustische gitarre zu verfremden, dürfte John inzwischen ausgeschöpft haben. Das macht sich auch auf seinem bisher letzten Opus, SUNDAY'S CHILD, das im Januar dieses Jahres erschien, bemerkbar. SUNDAY'S CHILD faßt noch einmal die Charakteristika der vorangegangenen Platten zusammen, bringt alles unter einen Hut. Die Musik ist diesmal eine ausgewogene Mischung aus elektrischen, rockigen und akustischen Nummern. Bezeichnenderweise sind hier wieder zwei Traditionals vertreten: "Satisfied Mind" und "Spencer The Rover". Daß John verstärkt in Richtung Elektronik tendiert, deutet vielleicht der extensive und äußerst reizvolle Einsatz des Synthesizers an. Auf Jazz-Bläser und ähnliches wird hier gänzlich verzichtet. Das soll nicht heißen, daß die Jazz-Einflüsse im Schwinden begriffen sind. Um das zu beurteilen, müßte man wohl erst die nächste Platte abwarten.

Nach all dem bisher Gesagten sollte man vielleicht doch noch die Widersprüchlichkeiten betonen, die sich in Martyns Persönlichkeit und in seiner Musik zu manifestieren scheinen, solange man sich bestimmte Teilaspekte ansieht.

Im Gegensatz zu seinen musikalischen Anstößen enthalten seine Texte nichts Weltbewegendes. Sie drehen sich hauptsächlich um sein Gefühlsleben, um die Familie, ums Kind - Texte, die in manchmal fast naiver Weise Grundlegendes, aber auch Banales ansprechen. John ist gerade in seinen Texten besonders sanft und romantisch - was nun wiederum in (scheinbarem) Widerspruch zu seiner sonstigen direkten und unverfälschten (Cockney-)Sprechweise steht.

Dann wäre da noch jener besondere Widerspruch zwischen der Erwartung des (Freiburger) Publikums und dem, was John musikalisch bietet, zu nennen. Das, was er bot, entsprach so gar nicht dem Image eines "Stars". Schon vor dem Konzert war da Lampenfieber (immerhin war's ja das erste in Deutschland). Deshalb auch ein immenser Whisky-Konsum vor dem Auftritt. Und dann das Konzert selbst - kein Folkkonzert mit schönen Traditionals, sondern erst einmal psychedelische (im alten und guten Sinn des Wortes) Eskapaden, dazu ein etwas fahriger John Martyn, der in unverständlichem Cockney lange Geschichten erzählt und viel Whisky säuft. Viele verstehen das, aber viele verlassen verärgert den Saal. John merkt das, fragt die Leute; ob's ihnen nicht gefiele, bietet als Kompromiß auch mal was Sanftes. Dann wieder Elektronik. Jetzt gehen die Folkfreunde endgültig. John findet das nicht schön und setzt seine Gefühle in eine äußerst aggressive elektronische Improvisation um, die die Köpfe durchpustet. Das wiederum findet das Publikum nicht gut. Schließlich geht John - arg mitgenommen, weil das Ding einfach nicht gelaufen ist. Aber ein harter Kern von zwei- bis dreihundert Zuhörern ist im Saal geblieben und möchte mehr hören. Schließlich läßt sich John überreden, noch einmal anzufangen, und plötzlich läuft das Ding: "Man, this is like a totally different concert with fucking good vibes!"

John Martyn, das Sonntagskind, hatte einen schlechten Tag erwischt. Aber was ein echtes Sonntagskind ist, das schafft es schließlich doch noch, das Beste aus einer Situation rauszuholen. Also gab's hinterher doch noch gute Laune genug, das Ereignis gebührend zu feiern.

Also kein ernstes Interview, sondern viel Alkohol und good vibes. Tut mir leid, wenn das ganze deshalb auch nicht sehr kritisch geworden ist, aber - wie schon Bernd Gockel in seiner Besprechung von SUNDAY'S CHILD in SOUNDS Nr. 5/75 schrieb - er ist halt ein lieber Kerl, der John.


sitenotes:
1 Eigentlich October 1967.
2 Eigentlich Flötist.
3 Gentle Blues.
Sounds - Das Musik Magazin erschien am jeden letzten Donnerstags des Monats bei Sounds Verlag in Hamburg. Diese Ausgabe hatte Neil Young auf dem Umschlag und kostete DM 2,50.


Ankeiler von Seite 3:

"Lieber spielt John Martyn an seinem Publikum vorbei, als daß er sich verkauft. Den Folk-Puristen ist er zu jazzig, die Freunde des reinen Jazz ärgern sich, wenn er wie ein romantischer Hendrix in die Saiten greift, und die Rocker unter seinen Hörern... na ja, unter einen Hut zu kriegen ist er nicht, dieser Sunnyboy mit der ewig guten Laune. Wir sprachen mit ihm nach seinem ersten Konzert in Deutschland."